Bayerischer Rundfunk am 6. Mai 2019 (BR24, BR Klassik)
„(…) 1921 schrieb Eduard Künneke eine Operette über unerfüllte Sehnsüchte und die Liebe nach dem Unerreichbaren. Am Landestheater Coburg macht Jörg Behr daraus ein umjubeltes Kammerspiel mit viel Strass und Trash.
Klar sind die meisten (…) Männer in der Einbildung viel aufregender, schöner, poetischer und vermögender als in Wirklichkeit. Für Frauen gilt vermutlich dasselbe. Also hat Julia de Weert ein echtes Problem, denn sie liebt seit sieben Jahren einen Jugendfreund, der nach Indonesien ausgewandert ist und seitdem nie wieder was von sich hören ließ, eben den »Vetter aus Dingsda«. Je länger er weg ist, desto größer und wohl auch desto illusorischer wird Julias Begehren – leibhaftige, anwesende Kerle, und mögen sie noch so charmant sein, können da nicht mithalten. (…)
Eduard Künneke schrieb 1921 also eine durchaus aktuelle und keineswegs absurde Operette, schließlich warteten damals viele Frauen auf Männer, die im Krieg geblieben waren. Fast immer vergeblich. Julia de Weert dagegen (…) trifft im dritten Akt tatsächlich auf den Angebeteten von ganz weit weg, und siehe da, er ist mittlerweile ganz anders als erträumt. Da bricht für sie eine Welt zusammen, da wird eine tiefe Sehnsucht enttäuscht, und wenn das so herbe inszeniert wird wie von Jörg Behr am Landestheater Coburg, kann das durchaus ganz unkitschig zu Tränen rühren. Wie ein Astronaut schwebt der so lang Vermisste Roderich aus dem Himmel, ein Außerirdischer, der seine frühere Jugendliebe längst vergessen hat und ihr auch gern den Erinnerungs-Ring zurückgibt. (…)
Einige Rollen waren mit Chorsolisten besetzt, die ihre Aufgaben vor allem schauspielerisch hervorragend meisterten, darunter Anne Heßling als trunksüchtige Hausherrin. Laura Incko war eine berührende Julia de Weert, Peter Aisher ein kraftvoller, aber auch vom Kriegseinsatz traumatisierter Liebhaber. Dirk Mestmacher gab als Egon den Verlierer in Liebesangelegenheiten, dem von den Blumen nur das Geschenkpapier blieb, das aber behandelte er so sorgfältig und liebevoll, dass er dafür Sonderapplaus bekam. (…)
In Coburg wurde (…) deutlich, warum (…) [der »Vetter aus Dingsda«] einst beim Uraufführungs-Publikum in der frühen Weimarer Republik abräumte. Und dass Onkel und Tante Verwandte sind, die man gern von hinten sieht, wie es in der Hit-Arie gleich zu Beginn heißt, soll ja (…) sogar im 21. Jahrhundert noch vorkommen.“
Peter Jungbluth: „Von weitem sind Männer himmlisch: »Vetter aus Dingsda« in Coburg.
Coburger Tageblatt vom 7. Mai 2019
„Wer Eduard Künnekes »Vetter« (…) in der umjubelten Premiere der Neuinszenierung am Landestheater Coburg erlebt, begegnet einem rüstigen Alten – betagt, aber verblüffend munter. Das Werk kommt nostalgisch, aber keineswegs verstaubt daher. Woran liegt das? Am Landestheater bleibt diese Geschichte (…) nicht nur an der glitzernden Oberfläche hängen, sondern bietet überraschende Momente, die im unterhaltsamen Treiben durchaus zum Nachdenken anregen. Wie aber kann das funktionieren?
DIE AUSSTATTUNG Mit seinem Bühnenbild und seinen Kostümen gelingt Ausstatter Marc Weeger das Kunststück, diese Operette einerseits unverkennbar in der Entstehungszeit zu belassen (Uraufführung im April 1921 in Berlin), andererseits aber dieses Zeitkolorit mit ironischer Übertreibung aus der Zeit zu lösen und damit in die Gegenwart zu holen. (…)
DIE REGIE Gastregisseur Jörg Behr, der erstmals am Landestheater inszeniert, lässt dem »Vetter aus Dingsda« seinen vordergründig unterhaltsamen Gestus, nimmt das Stück aber sehr ernst, blickt genau auf die Entstehungszeit und gestattet so den Zuschauern einen Blick hinter die Fassade. Klugerweise verzichtet Behr darauf, das Stück dramaturgisch zu zertrümmern. Vielmehr setzt er auf präzise, fein differenzierte Personenführung, die unterstützt wird von den choreografischen Akzenten, die Daniel Cimpean beisteuert.
DIE DARSTELLER Beste Voraussetzungen mithin für die ebenso spielfreudig wie präzis agierende Darstellerriege, den Figuren klares Profil zu geben.(…) – sie alle begeistern das applausfreudige Premierenpublikum mit temperamentvollem Spiel, als wollten sie diesen Satz im Libretto von Herman Haller und Fritz Oliven besonders betonen: ,Ganz unverhofft kommt oft das Glück‘.
DAS FAZIT Künnekes »Vetter« lohnt in jedem Fall einen Besuch im Landestheater – stilvolles Operettenvergnügen, auf das das Publikum im Landestheater in dieser Saison lange warten musste.“
Jochen Berger: „Ganz unverhofft kommt oft das Glück – wie Gastregisseur Jörg Behr mit seinem Ausstatter Marc Weeger die Operette »Der Vetter aus Dingsda« von Eduard Künneke auf die Bühne des Landestheaters Coburg bringt.“, S. 16, Feuilleton.
Coburger Neue Presse vom 7. Mai 2019
„Peng. Die weißen Luftballons platzen wie die rosaroten Träume – und trotzdem finden die liebenden Herzen zueinander. (…) Erfolgreich konzentriert [der Regisseur Jörg Behr] sich darauf, Operettenfans und solche, die es werden könnten, so kurzweilig und kitschfrei wie möglich zu unterhalten und ihnen unaufdringlich zu erklären, weshalb diese schlicht gestrickte Romantikklamotte anno 1921 einschlug wie eine Bombe. (…) . Auch wegen des Zeitgeists, der hinter den amourösen Wirrungen flackert: Der 1. Weltkrieg steckt den Menschen noch in den Knochen und Köpfen, viele leiden Not. Und gleichzeitig bricht eine andere Epoche an, die neue Freiheiten und Vergnügungen verheißt – vorerst, wie wir heute wissen.
Dieses spannende Zeitkolorit lässt Marc Weeger in seinem opulenten Bühnenbild und den zeitgenössischen Kostümen aufscheinen: Im Hintergrund die schwarze Silhouette der derangierten Metropole Berlin, im Vordergrund eine grünende Oase – das Schlösschen, in dem die betuchte Julia de Weert auf ihren „Romeo“ wartet. Der heißt eigentlich Roderich und hat sich bei Kriegsbeginn vor sieben Jahren in die Südsee abgeseilt. Nach Bavaria … oder Batavia? Egal, nach „Dingsda“ eben.
Als brave Unschuld vom Lande gibt die temperamentvoll spielende und bezaubernd singende Laura Incko diese Julia allerdings nicht: Im neckischen Glitzerkleidchen sonnt sich der fidele Twen in urbanem Varietéflair und vergnügt sich in Ermangelung männlicher Lustobjekte spielerisch frivol mit Busenfreundin Hannchen, die Francesca Paratore (alternierend mit Dimitra Kotidou) gleichermaßen kess verkörpert.
Die beiden stehen für den seinerzeit neuen, selbstbewussten Typus Frau, der selbst Traumprinzen nicht willenlos zu Füßen liegt. Und so springen die Damen recht forsch und lustbewusst mit ihren Verehrern um – und auf ihnen herum. Selbst wenn die gendertechnisch noch so antik ticken wie August Kuhbrot: „Kindchen, du musst nicht so schrecklich viel denken“, rät er Julia,die ihn derweil munter aufs Kreuz legt. (…)
So ist es plausibel, dass Jörg Behr den Hauptakteur mit ins Boot holt, also auf die Bühne: Das Orchester sitzt hinter dem Portal, gewissermaßen als Puffer zwischen Julias Komfortzone und der Welt da draußen, zu der ein schmaler Laufsteg führt. Diese Platzierung erweist sich als wirkungsvoll: Vor lebendiger Orchesterkulisse erfreuen die auf Foxtrott-, Tango- und Walzerrhythmen fußenden Schlager „ganzheitlich“, das Auge hört mit und die Ohrwürmer haben leichtes Spiel.“
Dieter Ungelenk: „Rein in die Komfortzone“, Feuilleton, S. 18.