Leipziger Volkszeitung am 25. Januar 2019, Kultur:
„Produktionen der Fachrichtung Gesang/Musiktheater der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« haben oft Überraschungspotenzial. Das gilt auch für diese lohnende und überraschende Entdeckung (…) aus dem Schaffen des hierzulande sträflich vernachlässigten Jules Massenet. (…) Das Bildnis der Manon‘ (,Le portrait de Manon‘) steht in jeder Sekunde zwischen Schwank und Schmerz: Am Ende bekommen sich die 16-jährige Aurore und ihr 18-jähriger Liebhaber Jean, überwinden Standesgrenzen und den rigiden Widerstand von Jeans 50-jährigem Vormund. In dieser typischen Komödien-Konstellation erkennen Operngänger sofort eine vertraute Figur. Denn dieser Vormund ist der gealterte und deshalb vom Tenor zum Bariton gewordene Chevalier Des Grieux, der auch in Puccinis ,Manon Lescaut‘ an der Leiche der flatterhaften, unwiderstehlichen Titelfigur schluchzend zusammenbricht. (…)
Unter weniger günstigen Aufführungsbedingungen wirkt diese Opéra comique etwas konstruiert, unter guten wie hier berührt sie: Ein Bild der toten Manon bewirkt die Wende zum Guten.(…)
An einer grabähnlichen Vertiefung kauert der in die Jahre gekommene Des Grieux und widmet Manons textilen Hinterlassenschaften einen nekrophilen Kult. Dem Regisseur Jörg Behr bereitete der Zeitsprung von 40 Jahren und vor allem der Gesinnungswandel Des Grieux’ vom der Liebe verfallenen Studenten zum rigorosen Monarchisten Kopfzerbrechen. Deshalb spielen die 50 Minuten in einer von revolutionären Unruhen erschütterten Phase des 20. Jahrhunderts. Jakob Kunath singt und gestaltet die Zerrissenheit Des Grieux’ mit emotionaler Hochspannung und beeindruckend getroffener Rollentextur. Einen ebenso beglückenden Eindruck macht Julia Araujo Barragan als junge Aurore, erst Barrikadenstürmerin und am Ende erkannt als Nichte Manons.
Ihre träumerisch trunkene Begegnung mit dem liebes-kranken Des Grieux erlangt fast die alptraumhafte Dichte von Korngolds ,Die tote Stadt‘ , mit der ,Le portrait de Manon‘ in Behrs Inszenierung bedrückende Gemeinsamkeiten aufweist. Jana Markovic als Jean hat eine ideale Ausstrahlung für Hosenrollen und in der Stimme jene leicht abdunkelnde Herbheit, die ihre szenischen Voraussetzungen dafür bekräftigen.
Ausgleich für die einzige kleinere Partie hält die Regie für den Tenor Antonio Fernandes-Brixis bereit: Dieser gibt sich beim Happy End als behandelnder Arzt zu erkennen, der die junge Aurore als Reinkarnation Manons ins Rennen schickte. Mit der nüchternen und die Konzentration fördernde Spielfläche von Marc Weeger kann man sich gut auf das Spiel einlassen. Diese Produktion erzählt mit kleinen Gesten fast so viel wie ein ausladendes Musikdrama. Das erkannt zu haben, ist der Verdienst einer klug abwägenden Spielleitung und des sich dem schwierigen Werk mit Feingefühl stellenden jungen Ensembles.“